Worauf wartet Sabine Ernst im Wartebereich1 im Erdgeschoss?

Worauf wartet Sabine Ernst im Wartebereich1 im Erdgeschoss?

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Assoziationen aus dem SCHURF von Caro Speisser

„Geschichten erzählen, ist ja immer die Kunst, sie weiter zu erzählen, und die verliert sich, wenn die Geschichten nicht mehr behalten werden.“ Walter Benjamin

Vom 21. Auf den 22. Februar haben acht Performer:innen während 24-Stunden in einer textonische Landschaft von 45 m³ Altkleidern der Plantenbewohner:innen geschürft.

Die eigenen Körper wurden umhüllt und verformt von neuen und alten, gebrauchten oder gar noch mit Etikett versehenen Stücken, deren Wert in den Stunden des Entstehungs- & Produktionsprozesses unter den Händen der Näher:innen auch schon wieder zerfiel. Die Schürfer:innen unterwanderten Dünen aus Daunenjacken, hob Gruben aus und drangen ins Innere der Materialität. Kein sicheres Auftreten war möglich. Von der Kleiderhalde aus schweifte ihr Blick über die verworfene Landschaft des Anthropozaen.
Welche Geschichten und Gedanken haben sie freigelegt? Was kann erforscht, gelesen und erzählt werden von dem Stoff, der gegenwärtige Zivilisationsgeschichte ist.

Am 27. Februar luden wir Chronist:inen und Wortfinder:innen dazu ihre Gedanken zur  textonischen Landschaft
der BHROX bauhaus reuse als  Poems, Essays, Novellen und Aufzeichnungen niederzuschreiben. Wir veröffentlichen die Texte in loser Folge .

GRISUTEN

GRISUTEN

GRISUTEN

Der Badeanzug liegt vor mir, gerade so, als sei ihm seine Trägerin nach dem Bad entstiegen und hätte ihn, das salznasse Stück Stoff, noch nicht aufgehoben, ausgewrungen, ins Strandlaken eingerollt und in den Bastkorb gelegt. Vielleicht rubbelt sie hinter der Schwingtür – die eher einen Saloon als eine Umkleide vermuten lässt – noch ihren Körper mit einem rauen Strandlaken aus Frottex trocken. Die feuchten Haare stehen wirr ab – das machte sie unglücklich – hatte sie doch schwanengleich mit gerecktem Hals den Kopf über den Wasserspiegel balanciert. Dass ihre Adern dabei hervortraten, ließ sich vom Ufer aus nicht wahrnehmen, nur das Zittern der künstlichen Blumenblätter an ihrer Badekappe. Für den fernen Blick hatte sie sich in eine Nymphea, eine Seerose, verwandelt.

Die Schwingtüre endet achtzehn Zentimeter überm Boden und gibt den Blicken ihre Knöchel preis.
Der Rückenausschnitt des Badezuges beschreibt die Horizontline an den Ufern des Balaton.

Seine Sonnenuntergänge stimmen sie traurig. Sie liest in den Verfärbungen des Himmels die Prophezeiung vom Ende des Sommers. Auch die gelb-orange-roten Blätter auf ihrem Badeanzug künden bereits vom Herbst. Ihr Fallen ist als Druck auf Grisuten Textur festgehalten.

In den Sommerurlauben der 70er Jahre am Plattensee ahnt sie nicht, dass ausgerechnet die Chemiefaser aus dem Havelland bestand haben würde – auch noch als zwanzig Jahre später der Boden unter ihren Füßen nicht mehr DDR hieß. Bis heute produziert das Werk der Märkischen Faser GmbH Produkte aus Grisuten®: Von der Babywindel bis zur Inkontinenzeinlage beweist sich der Faserstoff als flexibles Gebilde und findet Anwendung in allen Phasen des menschlichen Lebenszyklus, als Bekleidung, in der Hygiene, Heimtextilien oder dem Automobil.

Als sie sich Jahre später auf der Alpentour im Cabrio vom Wörthersee nach Monaco dem Rausch der Freiheit hingab und die unerträgliche Leichtigkeit des Seins erprobte, war ihr da bewusst, dass das Verdeck Grisuten-Fasern aus Primnitz enthielt? Dass, während sie in den 50er Jahren als Kind in deutscher Trümmerlandschaft spielte, die Schauspielerin und spätere Fürstin Grace Kelly mit Carry Grant in einem ebensolchen Cabrio durch das Filmsetting von Imago rauschte?

 Huldigte sie der Ikone als sie die Badekappe gegen ein im Grace-Kelly-Style geschlungenes Kopftuch tauschte?

Träumt sie heute manchmal auf der Fahrt zum Supermarkt unter dem Dachhimmel, der aus der gleichen Polyesterfaser gefertigt wurde wie ihr Badeanzug, von den Sommern am Balaton? Lächelt sie in Erinnerung daran, wie die Blätter des Badeanzugs auf den Boden fielen und mit ihnen die letzte Hülle.

Eine Hand erkundet das Panorama ihres Rückens.

Licht aus.

barbara caveng

 

„Geschichten erzählen, ist ja immer die Kunst, sie weiter zu erzählen, und die verliert sich, wenn die Geschichten nicht mehr behalten werden.“ Walter Benjamin

Vom 21. Auf den 22. Februar haben acht Performer:innen während 24-Stunden in einer textonische Landschaft von 45 m³ Altkleidern der Plantenbewohner:innen geschürft.

Die eigenen Körper wurden umhüllt und verformt von neuen und alten, gebrauchten oder gar noch mit Etikett versehenen Stücken, deren Wert in den Stunden des Entstehungs- & Produktionsprozesses unter den Händen der Näher:innen auch schon wieder zerfiel. Die Schürfer:innen unterwanderten Dünen aus Daunenjacken, hob Gruben aus und drangen ins Innere der Materialität. Kein sicheres Auftreten war möglich. Von der Kleiderhalde aus schweifte ihr Blick über die verworfene Landschaft des Anthropozaen.
Welche Geschichten und Gedanken haben sie freigelegt? Was kann erforscht, gelesen und erzählt werden von dem Stoff, der gegenwärtige Zivilisationsgeschichte ist.

Am 27. Februar luden wir Chronist:inen und Wortfinder:innen dazu ihre Gedanken zur  textonischen Landschaft
der BHROX bauhaus reuse als  Poems, Essays, Novellen und Aufzeichnungen niederzuschreiben. Wir veröffentlichen die Texte in loser Folge .

Anleitung zum Umgang mit Obdachlosen

Anleitung zum Umgang mit Obdachlosen

 

Anleitung zum Umgang mit Obdachlosen

Ein Essay von Jan Markowsky

Ein Problem wird immer sichtbarer: Obdachlosigkeit in Berlin.

Der Wohnungsmarkt hat sich in den letzten 20 Jahren Berlin vom Mietermarkt zum Vermietermarkt entwickelt. Die Mieten steigen, es fehlen Wohnungen für Menschen, die nicht so viel Geld auf dem Konto haben. Der Senat hat in einer Verordnung zur Begründung des Zweckentfremdungsverbots von Wohnungsnot gesprochen. Menschen in prekären wirtschaftlichen Verhältnissen verlieren leichter ihre Wohnung und haben es schwer, eine neue Wohnung zu finden. Menschen ohne eigene Wohnung haben auf dem Wohnungsmarkt in Berlin ganz schlechte Karten. Obdachlosigkeit ist zum großen Teil hausgemacht. Dazu kommen Menschen, die in ihrer Heimat keine Chance haben, in Berlin bei dem Versuch ein Einkommen für sich und die Familie zu finden, gescheitert sind und so in der Obdachlosigkeit landen. Sie haben noch schlechtere Karten auf dem Wohnungsmarkt in Berlin. 

Die systematische Ausgrenzung der beiden Gruppen hat zum massiven Anstieg der Zahl obdachloser Menschen geführt. Genaue Zahlen sind nicht vorhanden. Allein der Umstand, dass in Berlin-Mitte unter jeder Spree-Brücke Menschgen Obdach finden, ist ein deutliches Zeichen. Wenn der Soziallsenator Wort hält, werden wir in absehbarer Zeit belastbare Zahlen haben. Für 2017 hat der Staatssekretär für Soziales Herr Geisel die Zählung Obdachloser versprochen.
Vertreibung hilft nicht.
Obdachlose und Bettler will Niemand haben: Die sollen bleiben wo sie wollen, aber nicht vor meiner Tür. Weg mit ihnen. Nach Vertreibung sind die „Störer“ eine Zeit wie vom Erdboden verschwunden, tauchen nach einiger Zeit an anderer Stelle auf.
Nur: Vertreiben ist keine Lösung. Die „störenden“ Obdachlosen gehen dann woanders hin, werden dort wieder vertrieben und tauchen irgendwann an alter Stelle wieder auf. 

Die Tatsächlichen und vermeintlichen Störungen des Zusammenlebens sind Ausdruck von Ausgrenzung der Menschen. Vertreibung ist harte Ausgrenzung. Wenn Menschen stören ist es besser, mit den vermeintlichen Störern zu reden. Auf Augenhöhe. Von Mensch zu Mensch.

Obdachlose sind nicht alle gleich

Das Leben auf der Straße ist hart. Da bleiben nur Betteln und Saufen und/oder Drogen als Ausweg. Das stimmt und stimmt auch nicht. Tatsache ist, dass viele Obdachlose suchtkrank sind. Aber längst nicht alle. Es stimmt, dass Obdachlose betteln, aber längst nicht alle. Jeder Mensch geht mit der Erfahrung, seine Wohnung zu verlieren, anders um. Die Obdachlosen sind weit weniger gleich, als es auf dem ersten Blick erscheint. Einen Menschen im weißen Hemd und Anzug sehen Sie die Obdachlosigkeit nicht an. Sie sehen nur die suchtkranken Bettler. Längst nicht alle Obdachlosen betteln. Längst nicht alle Obdachlose stören. Längst nicht jeder Obdachlose ist dreckig.

Wenn ein Obdachloser einen psychotischen Schub hat und die Welt anders sieht als wir, dann stört er nicht als Mensch, der keine Wohnung hat. Ihm muss geholfen werden. Ein suchtkranker Obdachloser stört nicht, weil er keine Wohnung hat, sondern, weil er suchtkrank ist. Vertreibung ist keine Hilfe!

Fakt ist, dass suchtkranke Menschen in prekären wirtschaftlichen Verhältnissen viel Zeit für die Beschaffung von Geld für Suchtmittel benötigen. Diesen Menschen Faulheit vorzuwerfen, zeugt von mangender Kenntnis der Lebenswirklichkeit dieser Menschen. Und Obdachlosigkeit ist die schärfste Form prekärer wirtschaftlicher Verhältnisse.

Viele Menschen, die Sie wegen ihres Outfits für obdachlos halten, haben eine Unterkunft oder leben gar in einer eigenen Wohnung. Ein Mensch, der vom Betteln lebt oder auf Betteln angewiesen ist, erhält in abgerissener Kleidung mehr Geld als ein sauber angezogener Mensch, der sich täglich wäscht. Einen Menschen in sauberer Kleidung, mit blank geputzten Schuhen im Anzug und Krawatte sehen Sie Obdachlosigkeit nicht an. Das Bild über Obdachlose wird nicht von den Obdachlosen geprägt, sondern von den Obdachlosen und Menschen in prekären wirtschaftlichen Verhältnissen, die in das verbreitete Klischee passen, weil sie stören.

Wie einem Obdachlosen begegnen?

Wenn Sie einen Obdachlosen begegnen, begegnen Sie einen Menschen.

Begrüßen Sie ihn freundlich, unterhalten Sie sich mit ihm. Auf Augenhöhe. Wenn Sie merken, der Obdachlose ist hilflos, sind Sie verpflichtet, ihm nach bestem Wissen zu helfen. Die Notrufnummern für Rettungsdient und Polizei sind bekannt. In Berlin suchen im Winter die Kältebusse der Berliner Stadtmission und der Wärmebus des DRK Obdachlose in der ganzen Stadt auf. Sie sind telefonisch erreichbar. In anderen großen Städten gibt es ähnliche mobile Hilfsangebote.

Seien Sie auch freundlich, wenn Sie sich gestört fühlen.
Was Sie tun können, ist ein anderes Thema. Darüber werde ich das nächste Mal schreiben. Versprochen.

 

 

Der Text wurde 2016 für die Zeitung strassenfeger verfasst, aber nicht publiziert. (Anmerkung der Redaktion)

Lebenslauf Jan Markowsky

geb: 21.08.2949 in Greifswald
 
Ausbildung
Schulbesuch 1956 bis 1967 polytechnischer Oberschulen in Velten, Leegebruch, Saßnitz Schönebeck/Elbe, im OT Frose mit Abschlup10. Klasse
 
Ausbildung 1967 bis 1970 Chemiefacharbeiter mit Abitur an der Berufsschule des VEB Fahlberg-List Magdeburg
 
Studium chemische Verfahrenstechnik an der Sektion Hochpolymere 1970 bis 1974 an TH Leuna-Merseburg in Merseburg mit Abschluss Hochschulingenieur
 
Berufstätigkeit
1972 – 1976 Mitarbeiter für wissenschaftliche Arbeitsorganisation und  Wechsel als Technologe ins VEB Fernsehkolbenwerk Friedrichshain/Niederlausitz
 
1975 – 1983 Ingenieur im Rationalisierungsdient Gas bei VEB Gasversorgung Berlin und in der Abteilung Gas der Stelle für Rationelle Energieanwendung Berlin beim Energiekombinat Berlin
 1983 – 1984 Mitarbeiter für BMSR-Technik im VEB Metall- und Halbzeugwerke Berlin
 1984 Übersiedlung nach Berlin-West
1984/85 ABM bei Senat für Stadtentwicklung und Umweltschutz im Projekt für SO36
 1986 – 1999 diverse Arbeiten als Energieberater und Ingenieur für Haustechnik freiberuflich und angestellt in Planungsbüros und Perioden der Arbeitslosigkeit
 Mai 1999 -Januar 2000 Mitarbeiter im Planungsbüro für Haustechnik (gefördert durch Arbeitsamt)

Leben ohne Wohnung

 

Januar 2000 Verlassen der Wohnung

April 2000 Einladung von Obdachlosen in den Tagestreffpunkt von Unter Druck- Kultur von der Straße in der Almstadtstraße in Berlin-Mitte. Dort auf Plakat der Theatergruppe Unter Druck gestoßen
 Mai 2000 Teilnahme an erster Probe: Rolle finden.

Absolventinnen des Weiterbildungsgangs Theaterpädagogik an der HdK Berlin hatten das Stück entwickelt

Juni 2000 Premiere „Tod eines Clowns“

2002 offener Brief an Klaus Rüdiger Landowski. Veröffentlichung im Straßenmagazin „strassenfeger“.  Aktion „sozialer Stadtrat“ beim „Offenen Wohnzimmer“  Protest gegen Schließung des Treffpunkts von Unter Druck als 2. Beitrag im „strassenfeger“

bis März 2003 Theaterarbeit bei Unter Druck durch Theaterpädagogin

 bis 2005 diverse Produktionen der Theatergruppe Unter Druck 

2005/06 der sozial-kulturelle Treffpunkt zieht unfreiwillig in den Wedding

2006  erste Premiere „Szenen aus dem Leben“

Seit 2003 wiederholte Zusammenarbeit mit barbara caveng unter anderem in den Projekten ready now, A.R.M-all recyled material und BRACE.

striemen:schön

striemen:schön

 

Striemen: schön

es hat mich fallen gelassen
losgelassen
von der Haut abgeschabt
vergessen
liege ich am boden
schwer (er-)trage ich die roten striemen
schwer und kalt
nass und feucht
die Regentropfen auf mir
ich sauge mich voll
dürste nach bedeutung und umdeutung

es hat mich fallen gelassen
denn ich habe mich fallen gelassen
ich reibe mich auf am Straßenrand
ich finde keine beachtung
lasse vergessen, was nicht vergessen werden kann
ertrage die schwere nicht
vollgesogen mit erinnerung an dich
ich dürste nach neuem leben
einer neuen haut
die mich (er-)tragen kann

doch etwas hat mich aufgehoben
ich werde leicht getragen
ein neues leben wartet
ich muss mich befreien
ich muss gewaschen werden
sauber von der Schwere
die auf mir liegt und in mir ist

man wird meine erinnerung nicht auswaschen können
die roten striemen auf meiner haut werden bleiben
ich werde sie zu lieben lernen
sie mit neuen augen sehen
die perspektive wechseln
ich bin die striemen, sie gehören mir
sie sind schön
etwas hat mich aufgehoben
ein neues auge gab mir neues leben
etwas hat mich berührt
man hat mich gefunden
gab mir die gelegenheit mich neu zu erfinden
man fand meine striemen schön
man hat mich fallen gelassen
ich habe mich fallen gelassen
ich wurde aufgehoben
meine striemen bleiben
schön

Tina Amerstorfer  | STREET SHOPING 22.1.2021

 

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