GRISUTEN
Der Badeanzug liegt vor mir, gerade so, als sei ihm seine Trägerin nach dem Bad entstiegen und hätte ihn, das salznasse Stück Stoff, noch nicht aufgehoben, ausgewrungen, ins Strandlaken eingerollt und in den Bastkorb gelegt. Vielleicht rubbelt sie hinter der Schwingtür – die eher einen Saloon als eine Umkleide vermuten lässt – noch ihren Körper mit einem rauen Strandlaken aus Frottex trocken. Die feuchten Haare stehen wirr ab – das machte sie unglücklich – hatte sie doch schwanengleich mit gerecktem Hals den Kopf über den Wasserspiegel balanciert. Dass ihre Adern dabei hervortraten, ließ sich vom Ufer aus nicht wahrnehmen, nur das Zittern der künstlichen Blumenblätter an ihrer Badekappe. Für den fernen Blick hatte sie sich in eine Nymphea, eine Seerose, verwandelt.
Die Schwingtüre endet achtzehn Zentimeter überm Boden und gibt den Blicken ihre Knöchel preis.
Der Rückenausschnitt des Badezuges beschreibt die Horizontline an den Ufern des Balaton.
Seine Sonnenuntergänge stimmen sie traurig. Sie liest in den Verfärbungen des Himmels die Prophezeiung vom Ende des Sommers. Auch die gelb-orange-roten Blätter auf ihrem Badeanzug künden bereits vom Herbst. Ihr Fallen ist als Druck auf Grisuten Textur festgehalten.
In den Sommerurlauben der 70er Jahre am Plattensee ahnt sie nicht, dass ausgerechnet die Chemiefaser aus dem Havelland bestand haben würde – auch noch als zwanzig Jahre später der Boden unter ihren Füßen nicht mehr DDR hieß. Bis heute produziert das Werk der Märkischen Faser GmbH Produkte aus Grisuten®: Von der Babywindel bis zur Inkontinenzeinlage beweist sich der Faserstoff als flexibles Gebilde und findet Anwendung in allen Phasen des menschlichen Lebenszyklus, als Bekleidung, in der Hygiene, Heimtextilien oder dem Automobil.
Als sie sich Jahre später auf der Alpentour im Cabrio vom Wörthersee nach Monaco dem Rausch der Freiheit hingab und die unerträgliche Leichtigkeit des Seins erprobte, war ihr da bewusst, dass das Verdeck Grisuten-Fasern aus Primnitz enthielt? Dass, während sie in den 50er Jahren als Kind in deutscher Trümmerlandschaft spielte, die Schauspielerin und spätere Fürstin Grace Kelly mit Carry Grant in einem ebensolchen Cabrio durch das Filmsetting von Imago rauschte?
Huldigte sie der Ikone als sie die Badekappe gegen ein im Grace-Kelly-Style geschlungenes Kopftuch tauschte?
Träumt sie heute manchmal auf der Fahrt zum Supermarkt unter dem Dachhimmel, der aus der gleichen Polyesterfaser gefertigt wurde wie ihr Badeanzug, von den Sommern am Balaton? Lächelt sie in Erinnerung daran, wie die Blätter des Badeanzugs auf den Boden fielen und mit ihnen die letzte Hülle.
Eine Hand erkundet das Panorama ihres Rückens.
Licht aus.
barbara caveng
„Geschichten erzählen, ist ja immer die Kunst, sie weiter zu erzählen, und die verliert sich, wenn die Geschichten nicht mehr behalten werden.“ Walter Benjamin
Vom 21. Auf den 22. Februar haben acht Performer:innen während 24-Stunden in einer textonische Landschaft von 45 m³ Altkleidern der Plantenbewohner:innen geschürft.
Die eigenen Körper wurden umhüllt und verformt von neuen und alten, gebrauchten oder gar noch mit Etikett versehenen Stücken, deren Wert in den Stunden des Entstehungs- & Produktionsprozesses unter den Händen der Näher:innen auch schon wieder zerfiel. Die Schürfer:innen unterwanderten Dünen aus Daunenjacken, hob Gruben aus und drangen ins Innere der Materialität. Kein sicheres Auftreten war möglich. Von der Kleiderhalde aus schweifte ihr Blick über die verworfene Landschaft des Anthropozaen.
Welche Geschichten und Gedanken haben sie freigelegt? Was kann erforscht, gelesen und erzählt werden von dem Stoff, der gegenwärtige Zivilisationsgeschichte ist.
Am 27. Februar luden wir Chronist:inen und Wortfinder:innen dazu ihre Gedanken zur textonischen Landschaft
der BHROX bauhaus reuse als Poems, Essays, Novellen und Aufzeichnungen niederzuschreiben. Wir veröffentlichen die Texte in loser Folge .