Vom Fallen und vom Aufheben / Redebeitrag im Rahmen des Kongresses auf der Kleiderhalde

Vom Fallen und vom Aufheben / Redebeitrag im Rahmen des Kongresses auf der Kleiderhalde

Vom Fallen und vom Aufheben / Redebeitrag im Rahmen des Kongresses auf der Kleiderhalde

barbara caveng, Gedanken nach Vilém Flusser: Die Stadt der Erstinkenden“ im Rahmen des Kongresses auf der Kleiderhalde | 14.10.2021 Stadtbibliothek Helene-Nathan

Es gibt Menschen, die haben die Fähigkeit Dinge und Objekte in Müll zu verwandeln. Das ist recht einfach – der Verlust des Gebrauchswertes geschieht allein durch die Benennung. Das Etwas kann mir lieb und teuer gewesen sein, vielleicht habe ich es sogar auf der Haut gespürt, mich angeschmiegt, mich eingewickelt, vielleicht bin ich ihm entwachsen, vielleicht will ich meine Erinnerung nicht mehr mit ihm teilen – dann nenn ich es Müll.

Wer Müll sagt oder denkt, beendet die Beziehung. „Da steht der Eimer“, oder noch besser, „ab in den Rinnstein. Versiff doch.“ Vielleicht braucht der Trennungsschmerz den Ekel – den Starkregen, der die Tränen aus der Seidenbluse wäscht, den Hund, der auf deinen früheren Lieblingspullover pisst.
Mehr als Umweltverschmutzung ist nicht mehr drin für dich, Teil, gestehe deine Vergänglichkeit.

Müll ist drastisch und so ist auch seine Sprache: „Verrotte du alte Stinksocke.“ „Verwest in eurem eigenen Schweiß- Sweat Pants.“ „Sorry kennen wir uns – geh doch zurück nach Bangladesch, da wo du herkommst.“ – „Ach, war Kambodscha? Sorry again – dahin geht die Reise nicht, aber in die Subsahara – passt das auch? Schon mal da gewesen?“

Ich sage Müll und das Leben geht weiter.

 Um es mal kriminalistisch auszudrücken: Müll ist Mord – da geht nix mehr. Entwertung total.  Ab in die Pathologie – Textile Forensik kannst du noch betreiben bevor das Objekt zur Gänze  vermodert, und dich fragen, wer wohl diese Faser mit Olivenöl versehrt hat und damit den  Mohair Flaum zerstört, in welcher Kneipe noch Rothändel ohne Filter geraucht werden, und  ob die Spuren vom Lippenstift stammen oder bloß von Roter Beete – jedes Kleidungsstück  getränkt mit Stoffen, die vom Leben erzählen. Vom Menschen.

“Hey du – was hast du denn so an heute? Einen Wollpullover? Schlaf mal ein paar Wochen  darin – dann kannst du zwischen dem Kratzen der Wolle und der Krätze auf deiner Haut  nicht mehr unterscheiden.”

Haha. 

Zwischenbemerkung: Der Müll, die Stadt und derTod – Rainer Maria Fassbender 1975 – schon gehört davon?  

Ein bisschen weniger total als Mord ist der Totschlag und noch ein bisschen weniger, der ‘versuchte Totschlag‘. Die Totschläger:innen das sind die Messis – die sprechen nicht von  Müll, höchstens von Abfall, die sehn da immer noch was drin. Das sind die mit den  Trennungsängsten. Wenn die Messis, also die mit dem Abfallbegriff, kurz bevor sie ersticken  in dem Zeug, weil sie sich versehentlich mit ihrer geschichteten, in alle Ritzen gestopften Architektur aus Schaumstoff und Fetischkleidung der 80er Jahre jeder Frischluftzufuhr  beraubt haben, wenn die also eine Therapie hinter sich haben, dann sind die geläutert und  verbringen ihren Lebensabend als Recycler-, Upcyler-, oder Reuser:innen. Die Latexkleidung  wird zu Wärmflaschen verschweißt, stinckende Socken werden mit Schwarzpulver  angereichert und dienen als Ersatz für die längst verbotene Pyrotechnik an Sylvester und ja – „Geschenkbänder, Einkaufsbeutel, Wachstuch oder Kosmetikpad – du wirst überrascht sein,  was man aus alten T-Shirts alles zaubern kann!“

Das sind die Lebensretter:innen, die guten Samariter:innen: Was gefallen ist, wird  aufgehoben, gewaschen, gereinigt, gebügelt, gefaltet – heute nennt man das Circular  Economy

Ach so ja – die Untherapierbaren polieren nun wenigstens ihr Auto mit den Lappen, die sie  früher aus T-Shirts, Hosen und Pullovern zu Halden aufgeschüttet haben, um jeden Morgen  davor niederzuknien, um Eingebung zu flehen oder um vorübergehende Blindheit zu bitten  um der Hölle des ‘Ich hab nichts anzuziehen‘, zu entgehen.

 

Wer kennt nicht die verzweifelte Situation: Der Schrank lässt sich längst nicht mehr schließen, die geshoppte Beute quillt wie Lava aus seinem Inneren. Zwischen drei und fünf Uhr nachts auf die Straße gestellt, vielleicht noch von einem Quäntchen Hoffnung beseelt, eine andere Bewohner:in der Stadt käme mit dem Stauraum zwischen den Regalbrettern zurecht – aber nach zwei Wochen ist das Ding immer noch da, umgekippt, mit Müll gefüllt – aber daneben stehen ja Akkordeon, eine Flasche Wein…. Ich nähere mich – in dem Schrank schläft – ein Mensch.

Kein Grund zum Erschrecken: Wussten Sie, – kleine Abschweifung -, dass ‚privat‘ geraubt heißt? Wenn das alle wüssten, wäre das Zeitalter der Romantik endgültig vorbei. Dann wäre die Grenze aufgehoben zwischen privat und öffentlich, zwischen dem drinnen und dem draußen. Raubgut hat auf Dauer keinen Bestand – das muss, an wen auch immer – irgendwann zurückgegeben werden und vielleicht schlafen bald noch viel mehr Menschen in umgekippten Schränken und decken sich mit den Lappen zu, die sie einst auf der „schön-das-du-da-bist“- Plattform von Zalando & Co. erworben haben.

Die Lappen schweigen dazu und stinken.

Irgendwann wird die Stadt unbewohnbar sein – einige mochten diesen Moment wohl nicht abwarten und sind schon weg, haben sich erhoben, sind auferstanden aus dem Müll – zurück ließen sie unter anderem ihre Hosen -der Tunnelblick gleitet durch Röhrenbeine und reflektieren das Drama.  –

Mensch!

„Was eben gesagt wurde ist empörend (schon weil es Vorurteile angreift) und muss gerechtfertigt werden. Hier der Versuch, dies zu tun -: Die vorgeschlagene Dreiteilung der Menschenzeit in ältere Steinzeit, jüngere Steinzeit und unmittelbare Zukunft geht davon aus, dass wir drei Katastrophen im Verlauf unseres Hierseins feststellen können. Die erste kann Menschwerdung heißen, sie äußert sich (unter anderem und vor allem) als Benutzung von steineren Instrumenten. Die zweite Katastrophe kann Entstehung der Zivilisation heißen und äußert sich vor allem als leben in Dörfern. Die dritte hat noch keinen treffenden Name; sie äußert sich vor allem in der tatsache, dass die Welt ungewöhnlich wird, also unbewohnbar.“[1]

 

[1] Vilém Flusser, Nomadische Überlegungen in“ absolute Vlém Flusser“, orange press, Freiburg 2003, p189

CATWALK ZUR SOZIAL-ÖKONOMISCHEN UTOPIE

CATWALK ZUR SOZIAL-ÖKONOMISCHEN UTOPIE

CATWALK ZUR SOZIAL-ÖKONOMISCHEN UTOPIE

Laia, Pauli und Nazanin Shamloo©Anja_Grabert | 12.9.2021

IT DOES NOT MATTER IF A DRESS IS USED OR IF IT IS A NEW DRESS FROM SOME TRENDY BRAND, WHAT MATTERS IS THE SOUL THAT WEARS IT.

Lorenzo

 

Walk with us!

Wir machten die Flugbahn zum Catwalk und demonstrierten Mode vom Asphalt an hybriden Wäscheständern auf der Aufmarschfläche R11 des Tempelhofer Feldes!

Es demonstrierten für Fashion-Standards einer gerechteren Zukunft und als Beitrag zur Debatte um Körperbild und Ästhetik:

Alice Fassina | Aliyah Iffli | Annelie | Boris Steinberg | Céline Iffli-Naumann | Deborah Klassen | Freeda | Flora Carmim | Geneviève | Kdindie | Laia  |LaMoel | Laura-Marie Gruch  | Manuela Coelho | Marlene Sommer | NavaNaimaPan | Nazanin Shamloo  | Nomadin der Lüfte |Pauli | Philairone | Purvi Dhrangaderiya | Sara Tivane | Sarah Nevada Grether | Sophie Stolle | Zohara |

Training: Leo Naomi Baur | José Caba | barbara caveng
Styling : STREETWARE saved item featuring Mo Lateef

Make Up & Haare:   Narong Boonme | Nazanin Emami | Olga Ionica Zavisic  | Reena Kumari | Sandrine Louise  |

Fotos Anja Grabert & Paolo Gallo

Im Kontext der Berlin Fashion Week forderte Berlins politischstes Mode-Label die Fast Fashion heraus, transformierte weggeworfene Textilien in prêt-à-porter und inszenierte soziale Plastik. Um mit Saved Items zur Bildung nachhaltiger Standards, fairer Produktionsketten und dekolonialisierter Lebensstilmuster beizutragen, veranstaltete STREETWARE den demonstrativen Catwalk der sozial-ökonomischen Utopie. Die präsentierten Fashion-Highlights stammten unmittelbar vom Asphalt der Straßen Berlins und dienten als provokanter Ausgangspunkt, um über Nachhaltigkeit, Produktionsweisen und soziale Praktik ins Gespräch zu kommen.

ICH LEGE AB

ich lege ab
die alten werte
ich streife ab
was mich schmückte
ich denke neu
denn dass, was mich entzückte
passt nicht mehr
liegt nicht mehr
angenehm
auf meiner haut

ich entdecke
mit geschlossenen augen
den wandel
den neubeginn
alles ist vorhanden
alles ist da
liegt auf den straßen
vor unseren füßen
es ist längst
nichts mehr so
wie es mal war

alles was uns getragen
alles was wir einst trugen
muss sich neu finden
sich neu ergründen
sehen und spüren
fühlen und hören
ein neues wissen
und….nichts mehr vermissen

die neuen kleider
werden die alten
nicht ersetzen
sie werden uns vielmehr
verletzen
wenn es so weitergeht
schutzlos und nackt
wie wir sind
im neubeginn
werden die alten kleider
mir zeigen
wer ich nun sein kann
ja, wer ich wirklich bin

/ borissteinberg @2021

Neben Nachhaltigkeit, Produktionsweisen und sozialer Praktik wurde das Diktat der  Schönheitsideale frei interpretiert und   Ästhetiken zur Debatte gestellt. Die Kollektion von STRRETWARE wurde auf dem Tempelhofer Feld präsentiert von Models, die durch ihre einzigartige Ausstrahlung  Normbegriffe sprengten und demonstrierten, was Schönheit wirklich bedeutet

Marlene Sommer hat sich den BMI vorgenommen:

Overweight – over WHAT weight?

Overnight, half the American population became “overweight”, just bc someone changed the BMI borders … wtf?

 In today’s society, the so-called “body-mass-index” is like a status symbol, sth that defines your class, the amount of appreciation you receive. We don’t compare the price of our house or car, the job of our partner… we compare ourselves. 

When everything else feels out of control, there’s sth we can do – that’s what we think. But we can’t fight our biology. Even if we all ate and moved the same, we’d still all look different. The BMI was introduced in the 1830s by a mathematician, not a biologist so there ain’t much science behind it.

There’s a beauty standard, so many ppl try to archive by going against their biological needs. Is that really what we want: The same boring looks, so that no one can differentiate us? What once made us humane and separated us from robots is what we all strive for. Others claim, they just wanted to be “normal”; fit in. Right… who defines that? That’s society. And who is society? Us – you and me🙌🏻. Why are we creating a norm, only certain ppl can “archive”? You can’t fight your biology.

Why not establish our true authentic self as the new normal? Flaws and stretch marks, rolls, and muscles. Let’s celebrate what our bodies DO for us instead of hating “all your curves and edges, all [our] perfect imperfections” as John Legend says in his song “All of me”.

Why don’t we appreciate the fact that we all look different? Ain’t it amazing that we’re one species but still all so unique

Be yourself, everyone else already exists.

The BMI was once supposed to be a guideline, sth to express ppl’s health easily. We’re smarter today: Health ain’t only about your weight, it’s physical sanity, mental health and so much more. Health ain’t a visual diagnosis. A normal weight is the one your body feels most comfortable at; your setpoint is individual, not a matter of BMI numbers!

Our body is our home🏡; our motor. We cannot cut the energy and expect electricity to still run. You can’t live a full life on an empty stomach. We need to start seeing our body as an instrument, not an ornament… it enables us to walk, laugh, write, talk, visit places. Don’t miss out on 95% of life only to weight 5% less

Do you wanna walk with us too?

ein poetische Fragestellung und eine Hommage an die abgestreiften Textilien von NavaNaimaPan

Ich komme Nachhause. Öffne die Tür zu einem Zimmer, das seines war, heute meines ist.  In der Mitte steht ein Bett, ungemacht, so als hätte er letzte Nacht noch darin geträumt. Behutsam setzte ich mich auf die Bettkante. Es gehört mir noch nicht, Höflichkeit ist angebracht. Ich entdecke eine alte Holztruhe, öffne sie ohne Erwartung etwas darin zu finden, vielmehr mit dem Gedanken, ob und was ich hineinlegen könnte. Einrichten.

 

Der Geruch von ausgetragenen Turnschuhen und modrigen Klamotten steigt aus der Holzkiste, entblösst eine Jeansjacke. Ich ziehe sie hinaus, schüttele sie aus, als ob der Geruch so vom Stoff abfallen könnte, ziehe sie mir über. Sie ist zu gross.

Ich frage mich, wie die selbe Jacke über seine Schultern fällt.

Ich widme mich meinem Rucksack, packe die Kleider aus. Die gestreifte Hose mit Schlag. Heute gehört sie ihr und mir, wir teilen sie uns. Wem wohl davor?

Der Schal, der auf der Brücke im Wind hing. Wer trug ihn gegen die beissende Biese um den Hals geschlungen? Wer friert heute ohne das Tuch?

Der rote, samtige Pulli, den ich vor dem Haus, in dem ich damals wohnte, auf der Mauer fand.

Textile; Gewobenes, Gewirktes. Textile, die sich um Menschen webten, auf Menschen wirkten. Textile, die sich um Menschen weben, auf Menschen wirken.

hManche von Ihnen werden ein Zuhause. Ich denke dabei an den Fliegerhut eines verstorbenen Grossvaters. Ich trage ihn auf dem Kopf und der Hut mich durch den Winter.

Ich mag Hüte. Ein kleines Dach über dem Kopf. Ein Zuhause eben.

In neues Jeans gehüllt, trete ich auf die fremden Strassen hinaus. Menschen gehen sie auf und ab. Kleider und Leute; sie machen sich in Wechselwirkung.

Da, am Strassenrand liegt eine schmale Trainerjacke. Ich denke an eine junge Frau. Eine, die in Bangladesch zwischen dutzend anderen jungen Frauen drei weisse Streifen auf die blaue Stoffjacke aufnäht. An eine junge Frau, die nach dem Workout verschwitzt friert, sich dieselbe Jacke hier im Westen überzieht.

Ich bin als eine der Passant:innen weiter durch die Strassen geschlendert. Mich mit jedem Schritt weitergedacht, einmal ostwärts und wieder zurück.

Ich biege in eine kleinere Strasse ab, hab mich verloren, dabei fällt mein Blick auf drei aneinandergereihter Schuhpaare. Ich sehe darin Kinderfüsse, sie spielen aufgeregt durch den Trubel der Stadt.

Der Herbst bläst und färbt zwischen den Häusern, ich vergrabe mich im Blau der Jeansjacke und bilde mir ein, ihn leise spüren zu können. Ihn, der die Jacke vor mir trug. Fast ist es so, als gingen wir gemeinsam, we walk together. Do you wanna walk with us too?

Werde  Influencer:in für eine tragbare Zukunft: Ecologize, decolonize and degender your Style!

Walk with us!

Walk with us!

Walk with us!

Hast du Lust auf der Fashion Week zu modeln und STREETWARE, Berlins nachhaltigstes Modelabel, zu präsentieren? Wir kreieren das ultimative Urban Outfit aus weggeworfenen Kleidungsstücken von den Straßen und setzen neue Fashionstandards. Mit STREETWARE kannst du auf der Fashion Week die Modeszene revolutionieren. 

Bei uns können sich ALLE Menschen bewerben, völlig unabhängig von Alter, Kleidergröße, Geschlecht und Aussehen – Du bist perfekt!

Damit du auf unserer Modeshow am 12. September 2021 glänzen kannst, erhältst Du vorab ein professionelles Catwalk-Training und für den großen Auftritt ein individuelles Styling.

Lust, Zeit und Interesse?  Dann füll einfach bis zum 4.9. um 24:00 das Formular aus  und wir melden uns bei dir. 

 

48 Stunden Neukölln: Frischluftkur für erstickte Stadtkultur

48 Stunden Neukölln: Frischluftkur für erstickte Stadtkultur

48 Stunden Neukölln: Frischluftkur für erstickte Stadtkultur

von Hanna Komornitzyk (29.06.2021) in art-in-berlin
Foto Anne Freitag

[…]  Vor der Galerie im Körnerpark sind 48 Wäscheständer aufgestellt, während im Hintergrund eine Jazzband spielt: Jeder von ihnen ist mit Kleidung behängt, die gegen Spende mitgenommen oder durch eigene ersetzt werden kann. Hinter der Aktion
En Plein Air steht das Projekt STREETWARE, das Kleidungsstücke aus den Straßen sammelt und wieder aufbereitet. Ein gesellschaftlicher Protest, der sich nicht nur unter freiem Himmel abspielt, sondern auch Fast Fashion ist Gegenteil überführt, sie entschleunigt und dauerhaft macht. >online weiterlesen oder Artikel downloaden.

CMP – colonial matrix of power

CMP – colonial matrix of power

CMP – the colonial matrix of power

Skulptur in Progress | Second Hand Kleid | Made-in Etiketten
2021 | Idee & Konzept: barbara caveng | Umsetzung: Céline Iffli-Naumann
Installation Alice Fassina | Céline Iffli-Naumann | Lina Tegtmeyer
Vitrine U7 Karl Marx Straße bis 31.7.2021
©Alice Fassina

 

 

Mit Grüßen aus Uganda

ein Brief von barbara caveng

100% Seide, ein fluffiges Sommerkleid mit fließendem Blumenmotiv – für 50 Cent ist es meines. Umgerechnet. Auf dem Markt in Kalerwe am Stadtrand von Kampala bezahle ich 2000 ugandische Schilling. Der Händler lacht und küsst den Schein. Es sei dies, teilt er euphorisch der um einen Kleiderhaufen versammelten Kundschaft mit, sein erstes Geld für den Tag. Es ist immerhin schon 14.30 Uhr. Ich dringe ins Innere des Marktes vor und treffe im Gedränge eine schnelle Entscheidung für drei T-Shirts:

Ein hellgrünes Adidas Shirt, ein Shirt mit dem Aufdruck ‚Straight Outta Kindergarten‘ und eines mit gestickter Werbung für ‚SeCla Gerüstbau‘, inklusive deutscher Mobilfunk-Nummer. Der Schriftzug der Baufirma läuft weiß auf schwarz über den gesamten Rücken. Für das Adidas Shirt besteht der Verkäufer auf einen Preis von 8000 Schilling, also 2 €, die anderen beiden wechseln für je 1,5 € die Hand.

Made in Bulgaria, made in China, made in Honduras, made in Turkey.

Second Hand Kleidung ergießt sich wie Lava über Stadt und Land. Vor unscheinbaren Lagerhallen, in denen sich die 45kg-Ballen stapeln, stehen die Verkäufer:innen Schlange um Ware in Empfang zu nehmen: je 380 Teile Damen-Oberbekleidung vakuumieret in einer Plastikhülle.

Sie versprechen Überleben.

SecondHand Ware  | Kampala 2021

Importiert aus den USA, Japan und Europa.

 

Seit 2017 droht die Regierung den Import von Second Hand Kleidung zu verbieten. Einfuhrzölle wurden erhöht. Mit der Kampagne ‚Buy Uganda Build Uganda‘ sollen die lokale Textilwirtschaft, die Industrie, kleine und mittlere Unternehmen gestärkt werden. Nachhaltigkeit steht im Fokus. Der Export des Rohstoffs Baumwolle geht dennoch weiterhin zu 95% ins Ausland. ‚Die Qualität der Second Hand Ware ist besser, als das was wir zurzeit produzieren können‘, sagt der Großhändler vor seiner vakuumierten Kleiderburg, ‚wir können es uns nicht mal leisten, über Qualität nachzudenken.‘

Darin sind sie sich einig, die, die verkaufen und die, die kaufen.

Uganda ist seit dem 8. Juni für 42 Tage im zweiten Lockdown. Die Pandemie bedroht das Leben der Menschen doppelt: mit dem Tod durch eine Corona-Erkrankung und mit einer Verschlechterung der Lebensbedingungen, in der sich der Hunger zur Armut gesellt.

Beim Wäschewaschen, sagte mir eine Frau, denke sie auch darüber nach, wie ihre Familie überhaupt überleben könne.

Gewaschen wird von Hand. Strom ist keine verfügbare Selbstverständlichkeit. Die Second Hand Kleidung liegt ausgebreitet zum Trocknen auf der Wiese.

Die Leben derjenigen, die in Bangladesch, in Vietnam, in China oder irgendwo sonst auf diesem Planenten unentwegt nähen, um den permanenten Nachschub an fast fashion zu gewährleisten und die Leben jener Menschen – zum Beispiel in Uganda – die die Kleidung auftragen, die von Europäischen Kund:innen bequem in der Online-Filiale bestellt und gleich schon wieder abgestoßen wird, diese Leben werden durch globale ökonomische Interessen und bedenkenlose Konsument:innen aufs Spiel gesetzt.

Die Schneider:innen des Landes, sitzen entweder im Freien an ihren Singer Nähmaschinen mit Pedalbetrieb oder arbeiten im Halbdunkel ihrer Räume. Die Maschine ist ein Schmuckstück: schwarz mit goldenem Schriftzug und geschwungen Ornamenten – die Maschine ist ein Erbe des britischen Kolonialismus: nahtlos wird die koloniale Vergangenheit in die postkolonialeModerne überführt: Second Hand Kleidung flutet und schädigt mit den daraus resultierenden sozial ökonomischen Konsequenzen das Land, die lokale Textilwirtschaft und die Manufakturen werden sich ohne Strom nicht gegen die Industrie durchsetzen können.

Mpigi, Uganda | 29.6.2021

barbara caveng ist zurzeit im Rahmen des ifa Programmes ‚Künstlerkontakte‘ in Uganda. Sie beschäftigt sich u.a. mit dem Handel von Second Hand Textilien und der Praxis der Textilpflege, sowie der Herstellung von Kleidung durch lokale Schneider:innen und Designer:innen

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