Feldarbeit

Feldarbeit

Aïcha Abbadi

KW 36 + 37

Feldarbeit

 

Ganz nah und doch in einer anderen Welt entsteht auf dem Tempelhofer Feld eine Offsite-Modenschau, während im ehemaligen Flughafen eine Kunst- und Modemesse stattfindet.
Der Open-Air-Laufsteg von STREETWARE findet im Zeitrahmen der Berliner Modewoche statt und bewegt sich dennoch in einer anderen zeitlichen Realität. Rollende Wäscheständer stehen verstreut zwischen Familien auf Picknickdecken, die sich zu einem Drachenfest versammelt haben, Models laufen unbeirrt durch die Bahnen der Rollerblader und Skater. Stimmen werden vom Wind gedämpft, während verschiedene Musikquellen in Wellen über das Feld transportiert werden. Ein Lieferwagen mit drei Polizisten steht daneben und beobachtet still. Die Models setzen sich aus Performer*innen, Student*innen und Nachbar*innen zusammen. Sie ziehen sich um, tragen Outfits, die für sie gestylt sind, aber die sie auch mitbestimmt haben. Die Jüngste, Marianna, ist erst ein Jahr alt. Auch ihre Mutter Sara freut sich über ihre erste eigene Model-Erfahrung, doch sie stellt fest dass sie sich erst einen Spiegel kaufen müsste, wenn sie weitermachen würde, da sie keinen besitzt. Ein paar letzte Schliffe an Haar und Make-up werden hinzugefügt und die Choreographie noch ein letztes Mal geprobt. Zur Unterstützung mitgebrachte Freunde warten gespannt, die ersten Passanten bleiben neugierig stehen.

Es demonstrierten für Fashion-Standards einer gerechteren Zukunft und als Beitrag zur Debatte um Körperbild und Ästhetik: Alice Fassina | Aliyah Iffli | Annelie | barbara caveng | Boris Steinberg | Céline Iffli-Naumann | Deborah Klassen | Freeda | Flora Carmim | Geneviève | José Caba < Kdindie | Laia  |LaMoel | Laura-Marie Gruch | Leonie Naomi Baur | Manuela Coelho | Marlene Sommer | NavaNaimaPan | Nazanin Shamloo  | Nomadin der Lüfte |Pauli | Philairone | Purvi Dhrangaderiya | Sara Tivane | Sarah Nevada Grether | Sophie Stolle | Zohara © Anja Grabert und Paolo Gallo

Durch die Vermittlung des Konzeptes der Show, welche ausschließlich aus STREETWAREAE-Artikeln besteht, entwickeln sich im Publikum Gespräche über die eigene Kleidung. Eine Gruppe von Freunden und Geschwistern, auf Einladung des nachhaltigen Stylisten Mo Latif gekommen, diskutiert über die besondere Bindung, welche über Kleidungsstücke entsteht, die miteinander geteilt und nahen Menschen weitergegeben wird.

„Ich weiß nicht warum, aber es macht mich glücklicher, sie so zu bekommen, als sie neu zu kaufen.“

„Auch, weil du eine Verbindung zu der Person hast.“

„Eine tiefe Verbindung, tiefe Verbindung – sie trägt einen Teil von mir, bringt jeden Tag einen kleinen Teil von mir mit.“

Im Gespräch mit Gästen aus der ersten Reihe.

Auch wenn sich die meisten Gäste der Show zunächst als nicht sehr modebewusst bezeichnen, stellt sich heraus, dass darunter ehemalige Models, Modedesigner, Stylisten, Kostümbildner und Nähbegeisterte sind. Viele tragen Kleidungsstücke, die sie selbst genäht oder aus Second-Hand-Stücken verändert haben, obwohl auch bei einigen eine Leidenschaft für Online-Shopping und das Ausprobieren neuer Styles aus Online-Blogs vorhanden ist. Für diejenigen, die aus dem Ausland nach Berlin gezogen sind, hat die Stadt einen Wandel in ihrer Denkweise bewirkt, der als bewusster Umgang mit Mode beschrieben wird, mit Swaps und Second-Hand-Stücken als Teil der Erfahrung, hier zu leben.

Eine Skaterin, zunächst irritiert von den Models in ihrer Bahn, wird enthusiastisch, als sie mehr über die Hintergründe erfährt. Es stellte sich heraus, dass sie früher Modedesignerin war, aber viele Jahre zuvor aufgehört habe, in der Branche zu arbeiten, weil es an fairen Praktiken mangelte. Nicht weit von ihr entfernt erzählt VICENTE, ein anderer Designer, dass er ungefähr zu der Zeit, als sie aufhörte, richtig angefangen hatte. Alle Stücke, die er herstellt, sind Unikate, aus Upcycling-Materialien – so hat er von Anfang an gearbeitet.

 Manuela Coelho trägt ‚poltical haute couture‘ von Ruth Faith Nalule | Geneviève © Anja Grabert  

Manuela, die „das Kleid“ aus Uganda modelliert, stellt eine besondere Verbindung zu dem Kleidungsstück her, das sie als das Gepäck der Geschichte beschreibt und ein Stück von allen Ecken der Welt enthält. Aus Mosambik kommend und die Folgen von Textilabfällen hautnah miterlebt, bedeutet das Tragen des Kleides für sie mehr als nur das Präsentieren: Sie möchte ein Bewusstsein für die sozialen und ökologischen Folgen von Mode schaffen und ein Vorbild für ihre Kinder sein. Seit sie in Mosambik während des Krieges aufgewachsen ist, kümmert sie sich um ihre Kleidung, schneidert und repariert sie, damit sie länger halten und gibt diese Werte in der Familie weiter. Auch ihre Tochter geht in der Show mit und als Manuela das Kleid an sie weitergibt, wird es zu einem symbolischen Statement, die Zukunft an die nächste Generation weiterzugeben.

Laura Marie Gruch | Manuela Coelho | Geneviève  trägt ‚poltical haute couture‘ von Ruth Faith Nalule © Anja Grabert  

Das Finale der Catwalk-Show im Tableau mit allen Beteiligten erzeugt noch einmal mehr Aufmerksamkeit. Wer bis dahin mit seinen eigenen Freizeitaktivitäten abgelenkt war, notiert sich schnell weitere Informationen und erfährt, dass die gezeigten Stücke in der darauffolgenden Woche zum Verleih zur Verfügung gestellt werden. Die VESTITHEK, in der Neuköllner Helene-Nathan-Bibliothek aufgebaut, in einem der obersten Stockwerke eines Einkaufszentrums und gut integriert zwischen Regalen voller Bücher und Musik-Alben, führt die Tradition der an verschiedenen Standorten entstandenen Kleiderleihbibliotheken fort. Zu den ersten professionell geführten in Europa gehörte Lånegarderoben, das 2010 in Stockholm eröffnet wurde. Während die meisten von ihnen sich in einzelnen Ladenlokalen oder Gemeindezentren befinden, eröffnet die Integration der VESTITHEK in die Stadtbibliothek das Konzept für ein neues Publikum. Als wäre sie schon immer da gewesen, verbindet sie alte und neue Gewohnheiten und startet eine Diskussion durch ihre bloße Anwesenheit.

Regenbogen-Zehensocken | Unter Palmen

Regenbogen-Zehensocken | Unter Palmen

Regenbogen-Zehensocken | Unter Palmen

Aïcha Abbadi

KW 21-24

“Iiih, diese Zehensocken, mit so kleinen Fingern, das mag ich gar nicht.”

“Hast du solche schon einmal anprobiert?”

“Nein… Es ist tatsächlich die Ästhetik, die mich stark abschreckt.”

(Gespräch bei der Eröffnung der Dresserie)

 

Mit dem Leih-Ort “Dresserie” in der Fuldastraße und der Tausch-Installation “En Plein Air” am Körnerpark, während des Festivals 48 Stunden Neukölln, verschwimmen bei Streetware die Grenzen zwischen künstlerischer Intervention und “Kund:innen”-naher Mode-Dienstleistung. Der Austausch mit dem Publikum bewegt sich entlang und gegen vorgefertigter Erwartungen. Dies wird deutlich in der Art, in der die Besucher:innen mit beiden Kontexten interagieren. Die Dresserie, temporär in einer Kunst-Galerie aufgebaut, wird von wiederkehrenden Besucher:innen und Nachbar:innen, welche mit den wechselnden Installationen vertraut sind, als konzeptuelle Arbeit aufgefasst.

Für zufällige Passant:innen ist das Leihkonzept oft noch ungewohnt – sie sind auf der Suche nach einem Schnäppchen. Eine Pastorin verlässt die Dresserie mit silbernen Schnürschuhen. Ein Paar ist sich in modischen Experimenten uneinig – trotz der Möglichkeit der Rückgabe verlassen sie den Ort mit leeren Händen. Ein anderes Paar findet sofort Teile zum Behalten – ein taillierter Blazer, eine fließende Lycra-Hose, lange Bermuda-Shorts in dickem grauen Baumwoll-Jersey. Die Reaktionen zu einzelnen Teilen sind eindeutig: persönliche Vorlieben
sind fest etabliert.

Eine fehlende Bandbreite an Größen wird bemerkbar – die Teile von der Straße fallen oft eher klein aus. Bei “En Plein Air” konnten Nachbar:innen die Lücke füllen und verteilten zum weiteren Tausch große Größen auf die Wäscheständer in der Sonne. Fundstücke der Touren zeichnen ein Bild der Lage – eine Runde in der Mittagshitze bringt eine Spur Kinder-Sonnenmützen hervor. Die Gespräche der Besucher:innen drehen sich um nachhaltigen Konsum, den Wert und die Pflege von Kleidung im Laufe der Zeit – aber auch um Eindrücke der Nachbarschaft selbst.

Eine Ansammlung von Wäscheständern unter Palmen in Neukölln – für manche die gewohnte Nachbarschafts-Atmosphäre, für andere eine Irritation, auf welche weitere Fragen folgen: über Kunst, das Soziale, das Handwerk und das gefundene Objekt.

Die Lumpensammler:innen gehen zwar bewusst auf die Suche, um Kleidung zu finden, doch manchmal erscheint es, als ob es eher die Kleidungsstücke sind, welche die Lumpensammler:innen finden. Während Jule die Wäscheständer von “En Plein Air” sortiert, findet sie das Lieblingsoberteil ihrer Kindheit. Längst nicht mehr in ihrem Besitz, könnte es sich um dessen Zwilling handeln, oder sogar doch um das Ihre, welches den Weg zu ihr zurückgefunden hat? Geschulten Auges erblickt Stella ein Mitarbeiter-Sweatshirt eines Genossenschafts-Supermarktes, welcher unter einem geparkten Auto hervorschaut. Auf einer früheren Tour an einem anderen Ort erzählte uns ein Nachbar, er hätte ein ebensolches Sweatshirt, welches er gerade anhatte, auch auf der Straße gefunden und mit Bleiche gebatikt, um es zu personalisieren.

Ein gemeinsames Empfinden der Besucher:innen der “Dresserie” und “En Plein Air” war das Bedürfnis, nach der Pandemie wieder zu “shoppen”, doch ohne das schlechte Gewissen. Ein Nachbar reservierte einen roten Bademantel und eine blaue Velours- Jogginghose zum späteren Tausch, kam dann aus seinem “Palast” mit Parkblick mit einer Tasche Hemden und Jacken zurück, sowie einem Tablett mit Kaffee. Die Ansammlung von Vermögen bringt nur Kummer, philosophierte er über eine Bekanntschaft – stattdessen verfolge er weniger Besitz und mehr Gelegenheiten zum nachbarschaftlichen Austausch.

Aïcha Abbadi in Begleitung einer Besucherin. // Alle fotos © paolo gallo

Spiel und Ordnung

Spiel und Ordnung

Aïcha Abbadi

KW 18-20

Spiel und Ordnung

 

Du hast mir erzählt, dass du Hüte machst.
Schirmmützen.

Und wie lange machst du das schon?
Seit 3 Jahren.

Hattest du mal längere Haare?
Ja.

Und seit wann hast du sie nicht mehr so lang?
Seit 3 Jahren. (lacht.)

Aïcha Abbadi im Gespräch mit Hatim Alyafi

Die Mützen waren nicht der Grund für Hatim’s Trennung von seinen Haaren, aber die
Entscheidung wurde durch diese mit Sicherheit erleichtert. Über die Jahre wurden sie zum
dauerhaFen, doch wandelbaren Kopfschmuck, zum Spiel mit veränderter äußerer Wirkung.
Etwas, das sofort ins Auge fällt, doch leider bei kaltem Wetter nicht die Ohren bedeckt,
weshalb auch Hatim sie ab und zu durch eine Strickmütze ersetzt.

Welche Eigenschaft macht ein Kleidungsstück zu einem wertgeschätzten Spielzeug
und wann ist die Spielzeit vorbei? Als Franceska den Stapel Kleidung durchgeht, welcher zur
Ausleihe für die Dresserie ausgewählt wurde, fühlt sie sich sofort zu mehr als einem Stück
hingezogen. Ein gelbes gepunktetes Kleid mit einer weichen, hellblauen Strickjacke. Sie
werden bereits mit Vorfreude als komplexe Looks gedacht, welche sie im Alltag tragen
würde, kombiniert mit hand-gemachtem Schmuck und vielleicht einem Paar
Gummistiefeln? Eine verspielte Materialität und eine fröhliche Ausstrahlung sind wichtig,
Eine elegante Funktionalität und allgemeine positive Wirkung.
Mehr noch als die visuelle Wirkung ist es die Vorstellungskraft, welche zum Spiel mit der
Kleidung verleitet, die Ausstrahlung der Einzelteile. Auch hier im Lager gibt es verschiedene
Kategorien, einige Teile dürfen den Raum mit engagierten STREETWARE-Träger:innen
verlassen, andere sollen wiederkommen, während wieder andere zur Weiterverarbeitung
vorbereitet werden. Einer dieser Stapel besteht vor allem aus dunkelgrauen, blauen und
schwarzen Teilen, viel Baumwolle und Polyester, Mäntel, Hosen und zerschnittene
Strumpfhosen, aber auch ein Bikini-Oberteil. In vielen Größen ist etwas dabei, doch zum
spielen scheinen sie sich nicht mehr zu eignen.
Die Prozesse von STREETWARE sind ein stetiger Wechsel zwischen Spiel und Ordnung,
enthusiastischem Entdecken und bedachtem Sortieren und Planen. Die Wäscheständer
werden bei den Nachbarn abgeholt, der Spaziergang mit ihnen durch die Straßen wird zur
Performance mit neugierigem Publikum. Doch vor der großen Inszenierung bleiben sie
zunächst ordentlich aufgereiht, wie die Kleidung selbst, gebügelt und gefaltet, wartend auf
ihren großen Auftritt.

Auszüge der begleitenden Forschung: STREETWARE im erweiterten Mode-Kontext

Auszüge der begleitenden Forschung: STREETWARE im erweiterten Mode-Kontext

Aïcha Abbadi

Auszüge der begleitenden Forschung: STREETWARE im erweiterten Mode-Kontext

Die Kleidung und Interaktionen von STREETWARE beinhalten eine Bandbreite komplexer Zusammenhänge, persönlicher Gedankengänge, Gefühle und Erinnerungen. Aïcha Abbadi  begleitet und erfasst diese Prozesse, um die vielschichtigen Bedeutungen textiler und modischer Erfahrungen zu erforschen, von der persönlichen Wahrnehmung hin zu globalen, historisch etablierten Strukturen. Was wird übersehen? Woran erinnern wir uns? Was erzählen uns die Kleidungsstücke selbst und unser Umgang mit ihnen über Gemeinsamkeiten und Unterschiede, Überzeugungen und Widersprüche?

Modische Lumpen sind ein Austausch zwischen Vergangenheit und Zukunft, hier und dort, Vergänglichkeit und Zeitlosigkeit. Sie sind eine Antwort und ein Hinterfragen der Komplexität unseres kollektiven sozialen Gefüges, setzen Willkür, persönliche Philosophie, strukturelle Unausweichlichkeiten und moralische Dilemmata nebeneinander.

Im Laufe des Projektes werden hier Auszüge der Forschung präsentiert: persönliche Eindrücke der verschiedenen Teilnehmer, Beobachtungen der Fundstücke und Interaktionen sowie deren Bedeutung und Position im erweiterten Mode-Kontext.

Zitat von Jan Markowsky

Paar Leute wollen oft nur Schwarz tragen. Ich war aber immer eher ein Freund von heller Kleidung.
[…] Einmal habe ich ein weißes, noch eingeschweißtes Hemd von der Kleiderkammer bekommen – weil ich immer sauber bleibe – das haben nicht alle bekommen.
[…] Dann habe ich aber versehentlich einmal Erbsensuppe über die helle Kleidung gekippt.“ 

FEELING AND (THE ABSENCE OF) COLOUR

Aïcha Abbadi

KW 16

FEELING AND (THE ABSENCE OF) COLOUR

 

 „I was always attracted by that box of costumes, carnival costumes.

And most of the time my choice was actually for the princess costumes,
with these beautiful embroideries and shining colours.

[…] we didn’t have the mirror in that school during that playground hour.

[…] It was this sense of beauty of the flowing from my waist down to the ground.

[…] how I could change my shape by moving with that costume.

[…] Maybe I was still keeping the trousers underneath.

[…] I think we were not allowed to undress totally.“

Kdindie

„Paar Leute wollen oft nur Schwarz tragen. Ich war aber immer eher ein Freund von heller Kleidung.
[…] Einmal habe ich ein weißes, noch eingeschweißtes Hemd von der Kleiderkammer bekommen – weil ich immer sauber bleibe – das haben nicht alle bekommen.
[…] Dann habe ich aber versehentlich einmal Erbsensuppe über die helle Kleidung gekippt.“

Jan

 

„I pick only things in the right size. Things that match my gender, practical items I can wear on a bike.
[…] The first item I found were very comfortable trousers/sweats – my favourite, long, grey, – very German!
I wear them all the time. How it feels is important. But I would never otherwise have chosen them in a shop.
[…] When I wear them I turn into a grey person.“

Daniela

 

 „Nach einer Performance ziehe ich diese grauen Stricksachen an. Um wieder zurück zu mir selbst zu finden.“

barbara

„I was missing something to black the outfit

[…] Now I feel comfortable. With the black and white over it.“

Kdindie

„I didn’t understand myself in that Mickey Mouse T-shirt.“

barbara

DE